CANNABIS IN DER MEDIZIN

Schon um 3.000 v. Chr. wurde in einem chinesischen Medizinbuch über die heilende Wirkung von Cannabis sativa berichtet. Aktuell erlebt die Hanfpflanze eine wahre Renaissance in der Medizin.

Doch wie steht es hierzulande um eine der ältesten Kulturpflanzen der Welt? Eine Auszeichnung als Arzneipflanze durch die Herbal Medicinal Products Platform Austria (HMPPA) 2018 und beinahe wöchentlich Meldungen zu neuen möglichen Einsatzgebieten bei medizi­nischen Indikationen – die Hanfpflanze scheint endlich auch in unserem Gesundheitssystem angekommen zu sein. Doch ist dem wirklich so? Wir haben uns bei zwei Ärzten und einem Patienten umgehört.

Dringender Nachholbedarf

„Wir haben in der Medizin dringenden Nachholbedarf“, erklärt die Wiener Gynäkologin und Autorin Dr. Iris Pleyer. Von ihr ist im März 2019 das Buch „Cannabidiol – Ein natürliches Heilmittel des Hanfs“ erschienen. Nachholbedarf herrscht Dr. Pleyer zufolge besonders in der Lehre, im Medizinstudium und beim medizinischen Personal, da das Endocannabinoid-System als wichtiger Teil unseres Nervensystems nach wie vor nicht Bestandteil des Lehrplans ist. Zugegebenermaßen ist das Wissen um das körpereigene Cannabinoid-System noch recht jung, und das, obwohl es sich um ein „fundamentales System handelt, das vor 700 Millionen Jahren entstanden ist“, wie der Schmerzmediziner Dr. Martin Pinsger erklärt. Dr. Pinsger leitet das Schmerzkompetenzzentrum in Bad Vöslau und arbeitet bereits seit Jahren mit synthetischem THC (Tetrahydrocannabinol). Zur gesetzlichen Lage meint er: „Wir haben mehrere Baustellen. Zum Ersten ist Schmerz nicht als offizielle Krankheit anerkannt, und THC ist nach wie vor eine Ultima-Ratio-Lösung. Das bedeutet, die Krankenkassa zahlt erst, wenn ein Patient alle anderen Medikamente probiert hat. Das ist sehr mühsam. Ich denke aber, dass Cannabis in den kommenden Jahren gerade in der Schmerzmedizin ein großes Thema werden wird.“

Mit Cannabis zu einem geregelten Leben

Das Endocannabinoid-System reguliert neben Schmerzen viele weitere wichtige Funktionen im Körper, unter anderem Entzündungen, Schlaf und Stress. Das Thema Stress spielt in der Lebensgeschichte des 36-jährigen Vincent Kühne aus Deutschland seit seiner Kindheit eine große Rolle. Die Diagnose ADHS führte zur Behandlung mit Ritalin. „Es hat mir 20 Jahre hindurch geholfen, ich war gut eingestellt. Allerdings waren die Nebenwirkungen massiv – kein Appetit, Schlafstörungen und es hat sich auch auf die Persönlichkeit, also mein emotionales Empfinden, ausgewirkt“, erzählt Vincent, der mittlerweile seit zwei Jahren erfolgreich als Cannabis-Botschafter „Growers Life“ in sozialen Medien Aufklärung und Wissen rund um (medizinisches) Cannabis liefert. Durch Experimente mit Cannabis als Jugendlicher begann seine von ihm so ­genannte „Selbstmedikation“. „Ich war dann einfach ruhig und entspannt und nicht mehr so impulsiv, die Impulsivität ist ja bei ADHSlern ein großes Problem“, erzählt er von seinen ersten Erfahrungen mit der Pflanze als Medikament. Das Ritalin konnte Vincent schließlich absetzen und durch Cannabis ersetzen, mit weitaus weniger Nebenwirkungen. „Cannabis kann ADHS nicht heilen, aber in Kombination mit einer (Gesprächs-)Therapie – die ich für jeden ADHSler für unabdingbar halte – erlaubt es mir, meinen starken Drang auf Reize gut zu regulieren und somit einen entspannten Alltag zu haben“, so der Cannabis-Botschafter. Vincent erhält seine Medizin in Form von Cannabisblüten mittlerweile auf Rezept in der Apotheke. Einfach war es für ihn aber nicht: „Ich war mit meinen drei Ordnern Krankengeschichte bei sieben Ärzten, bis ich schließlich jemanden gefunden habe, der sich Zeit für mich genommen hat“, erzählt er von seinem langen Weg zu Cannabis auf Rezept. Er ortet trotz mehr Information rund um Cannabis nach wie vor wenig Bereitschaft bei deutschen Medizinern, Neurologen und Psychologen, Cannabis zu verschreiben bzw. als Teil einer Therapie zu sehen.

THC & CBD

In Österreich besteht die Möglichkeit, das Cannabinoid THC in Form von Dronabinol (nur mit „Suchtgiftrezept“) und Nabilon als verschreibungspflichtiges Medikament zu erhalten. In Deutschland bekommt man zusätzlich seit März 2017 Cannabisblüten in der Apotheke auf Rezept zu kaufen. Neben THC boomt seit einigen Jahren das nicht psychoaktive Cannabidiol, kurz CBD. Es ist das am zweitbesten erforschte von bislang rund 120 Cannabinoiden der Hanfpflanze und wird bereits erfolgreich bei vielen medizinischen Indikationen angewendet. Bislang gibt es weltweit nur ein offizielles CBD-Medikament namens Epidiolex, dieses wurde 2018 in den USA zur Behandlung von frühkindlichen Formen von Epilepsie zugelassen.

Role-model Israel

Vorbildlich geht der Staat Israel mit dem Thema Cannabis in der Medizin um. Dort werden Schmerzpatienten sogar mit 100 Euro pro Monat für Cannabis sativa Produkte unterstützt. „Israelische Studien haben gezeigt, dass die Patienten mehr als die Hälfte der schmerzstillenden Medikamente weglassen konnten“, so Dr. Pleyer weiter. Im restlichen Europa fehlt es leider noch immer vielfach an Wissen bei Medizinern und medizinischem Personal. In Österreich ist CBD bislang in Form von Hanfblüten, als Extrakt, als Öl und als Beigabe in Kosmetika und Lebensmitteln erhältlich. „Ich wäre sehr dafür, dass es eine Mög­lichkeit gibt, CBD zu verschreiben. Hohe Dosierungen sind sehr teuer, und bislang muss das alles privat bezahlt werden. Neben den guten Anbietern von hochwertigen Vollextrakten sollte es auch die Möglichkeit eines CBD-Medikaments auf Krankenschein geben“, fordert die Gynäkologin Dr. Pleyer. Wissenschaftliche Studien zu CBD gibt es bereits viele, es fehlen allerdings noch die wirklich großen evidenzbasierten Studien und Untersuchungen, die für ein offizielles, hochdosiertes Medikament notwendig seien, wie auch der Schmerzmediziner Dr. Pinsger anmerkt.

Woran es liegt, dass diese immer noch fehlen, darüber kann nur gemutmaßt werden, denn Bedarf an CBD, THC und den vielfältigen Inhaltsstoffen der Hanfpflanze gibt es genug. Allein in Österreich gibt es laut der überparteilichen Interessenvertretung „Allianz Chronischer Schmerz Österreich“ 1,5 Millionen chronische Schmerzpatienten. Davon sind 33 Prozent berufsunfähig. Präventive, wirksame Therapien mit Cannabis und ein regulierter Zugang zu Cannabisblüten und Extrakten könnten allein hier sowohl Menschen große Erleichterung und mehr Lebensqualität bringen als auch dem Staat, uns Steuerzahlern und den Krankenkassen einiges an Geld ersparen.

Das Endocannabinoid-System

Bei Forschungen rund um die Wirkung von Cannabis entdeckten Wissenschaftler Anfang der 1990er Jahre, dass Menschen (und ein Großteil der Tiere) ein körpereigenes Cannabinoid-System besitzen. Unser Körper produziert sogenannte endogene, also körpereigene, Cannabinoide, daher auch der Name Endocannabinoid-System (ECS). Bislang konnten zwei primäre Cannabinoid-Rezeptoren bestimmt werden: der CB1-Rezeptor und der CB2-Rezeptor. Diese sind über das zentrale und das periphere Nervensystem verstreut. Sie beeinflussen elementare körperliche Prozesse, wie zum Beispiel die Regulierung des Appetits, unser Gedächtnis, die Schmerzwahrnehmung und auch die Immunfunktion des Körpers.

Der Entourage-Effekt

Die Hanfpflanze enthält rund 500 verschiedene Inhaltsstoffe, die bekanntesten sind die Cannabinoide (THC, CBD etc.), die Terpene (Geruchs- und Aromastoffe) und die Flavonoide (sekundäre Pflanzenstoffe). Laut verschiedenen Forschungsergebnissen werden diese nicht als isolierte Reinsubstanzen, sondern in Kombination miteinander am besten vom Körper aufgenommen – Stichwort Vollspektrum!

REDAKTION: Katharina Zedlacher, Andreas Buchrieser
FOTOS: Adobe Stock, Photo Simonis Wien-Austria, Privat, Beigestellt